Essay

Wir betrachten die Welt üblicherweise nicht mit einem, sondern mit zwei Augen. So sehen wir sie aus etwas unterschiedlicher Perspektive und können ihre Tiefe besser wahrnehmen. Manchmal treten wir näher, zu diesem Baum etwa, betasten seine Rinde, streichen über seine Blätter, riechen an seinen Blüten, hören wie sein Blattwerk im Wind klingt …

Fast immer nehmen wir mit beiden Augen wahr – und oft dazu noch mit weiteren Sinnen. So bekommen wir nach und nach ein gutes Gefühl für die gegenständliche Welt. Mit anderen Menschen streiten wir selten über unsere Wahrnehmung.

Ich weise auf diesen Baum hin: „Schau nur, wie schön er ist“. Ich werde hingewiesen auf eine Blume, auf die Bewegung des Wassers im Fluss, auf das beginnende Rot am Horizont … Wir streiten über diese Dinge nicht, wir zeigen sie uns, ihre Schönheit und Hässlichkeit. Der Waldarbeiter und der Angler machen uns auf ihre Nützlichkeit aufmerksam. Die Schönheit und Hässlichkeit nehmen sie auch wahr, sie wird bei ihnen überlagert durch das Interesse.

Wenn wir als Betrachter mal nicht übereinstimmen, wenn wir etwas unterschiedlich wahrnehmen, staunen wir und wundern uns. „Über Geschmack lässt sich streiten“, helfen uns Redewendungen dabei. Das unterschiedliche Interesse akzeptieren wir widerwillig. Ob Wanderer, Angler, Waldarbeiter ist uns das eigene Interesse am wichtigsten. In Frage stellen wir die Unterschiede nicht und versuchen, miteinander auszukommen.

In der Welt der Konzepte und Gedanken aber streiten wir ununterbrochen.

Und wenn wir dort mit anderen vereinbaren, dieselben Ansichten zu haben, sind wir plötzlich in einer Partei oder Sekte und streiten mit den Menschen um uns herum noch mehr.

Weil wir Gedanken, Konzepte, Weltanschauungen nicht mit vielen Sinnen betrachten, sondern nur unser Verstand an ihnen baut. Sie mögen auch einmal Wahrnehmungen und Interessen als Grundlage gehabt haben, zum System ausgebaut sind sie aber weit von ihnen entfernt, schweben über der sinnlichen Welt.

Unser Verstand ist alleine. Es gibt eine Mehrzahl von Sinneswahrnehmungen, doch es gibt keine Verstände. Der Verstand ist so allein, dass zwei davon in unserer ganzen Sprache keinen Platz haben.

Und unser Verstand ist noch sehr jung – evolutionär betrachtet viel jünger als unsere Sinne.

Wir täten gut daran, mit allem, was der Verstand uns sagt, vorsichtig und geduldig zu sein. Er hat nur ein Auge. Und sollten vielleicht andere Menschen und deren Verstand statt als Gegner besser als zusätzliche Sinne für uns betrachten, als zusätzliche Augen, und deren Standpunkte als zusätzliche Standpunkte, die unseren einen ergänzen, die ihm einen weiteren Punkt der Abstützung auf dem holprigen Land der Gedanken geben, statt dass wir andere Standpunkte in Frage stellen oder bekämpfen.

Natürlich kann einen ein Streit, kann einen ein anderer Standpunkt, auch mal drauf bringen, sich verrechnet, sich verdacht, etwas falsch eingeschätzt, ganz einfach Unrecht zu haben. Meist allerdings sagen unterschiedliche Anschauungen von Menschen nichts über Wahrheit oder Unwahrheit aus, sondern über ihre unterschiedliche Stellung in der Welt.

Weshalb wir auch schnell beleidigt sind und uns als Person angegriffen fühlen, wenn jemand unsere Sichtweise angreift. Meistens sind wir es zu Recht. Wenn jemand meine Position angreift, heißt das dann nicht, dass er meinen Platz in der Welt, meine Geschichte, meine Träume gering schätzt, nicht akzeptiert?

Mit Gedanken an einer gemeinsamen Welt zu bauen, ist schwierig. Religion und auch Philosophie behaupten zu oft noch immer die eine Wahrheit, zu der jemand durchgedrungen ist und die alle anderen Menschen nur noch anerkennen müssten. Wissenschaft nimmt ganz ausdrücklich die eine Wahrheit für sich in Anspruch – was sie als Kind der Sinne auch kann, als Kind der Gedanken und Gedankensysteme allerdings nicht.

Politik spitzt noch mehr zu. Da werden unterschiedliche Standpunkte zwar akzeptiert, werden im Kampf der Klassen oder der Parteien aber zum Machtkampf, etablieren den Eigennutz im Denken der Menschen als selbstverständliche Grundlage. Und eben den Kampf als Mittel der Auseinandersetzung.

Die Künste sind anders. Ihre Welt ist ein pantheistisches Reich, in dem die Ideen, Träume, Menschen nebeneinander stehen und miteinander sein können. Weil die Künste nicht nur eine Wahrheit, sondern unendlich viele Wahrheiten kennen, mehr als es Menschen gibt. Wenn Künste unduldsam werden, dann hören wir Einflüsterungen, Einflussnahmen von Religion, Philosophie, Wissenschaft, Politik. Wenn Künste Welt und Leben bereichern, dann haben sie beide Augen und alle Sinne geöffnet.

 

Aus: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 

Poetologie der Wolken