Lyrik

Apfelbaum an der Säge

Volker Friebel

Hügelketten im Dunst, im wechselnden Licht,
den Tag durch, den Mondlauf, das gewaltig rollende Jahr …
Der Pflug des Bauern wirft Schollen,
Keime murmeln, Sprosse brechen ins Offene,
da wiegt schon ein goldenes Feld, und Staub treibt
hinter dem Mähdrescher, Spreu fliegt im Wind …
Ein Pferd, das über die Wiese springt, den Kopf wirft,
wiehert … Ein alter Mann am Stock, der schlurft
übers früh gefallene Laub … Ein Kran schwenkt im Dorf,
durchs Hämmern die Rufe des Zimmermanns …
Und ziehende Wolken. Und Grillenzirpen …
Und strömender Regen … Nass tropft von Blatt
zu Blatt, wo es rein macht, weiter ins Gras
und noch zu den Wurzeln, ins Flüstern …
Ein Haufen Laub unter mir, zusammengerecht …
Mit jedem Blatt fällt auch ein Stück vom Leben …
Und wieder der Wind, der im liegen gebliebenen Buch
die Seiten umblättert … Mit blauer Schürze
liest eine Frau die Wiese auf … ihr Weidenkorb,
die zugebundenen Säcke, Männer schleifen sie fort …
Ein Zaun gezogen, Fliegen schwirren
um die großen Augen des Schimmels … Reif auf
dem Stacheldraht, später dann Schnee,
noch später ein Funkeln in jedem Tropfen,
in allen Farben des Lichtes … Holzscheite vom Nachbarn
am Wegrand … Am Himmel aber zunehmend Donnern,
silberne Pfeile – und blasser werdende Sterne …
Ein spätes Paar, Hand in Hand … Flocken tanzen
durchs kahle Geäst. Und immer noch Sterne …
So vieles wollt ich, so vieles liegt verstreut nun
über den Weg, wie Laub, wie Blüten … Wer nimmt sie,
wer bläst sie weiter, in die Zukunft hinein?

Durcheinander geworfen die Zeit, ein paar Sekunden
bleiben vom Leben, wenn die Säge jetzt ansetzt,
und ich weiß nicht, warum, und ich weiß nicht,
wohin mein Leben noch dauert,
vielleicht in den Wind, in die Wolken,
in die sich tiefer verschleiernden Sterne,
vielleicht ins Knistern der Scheite im Feuer
eines Landhauskamins, an dem die Alte
mit ihren Enkeln hockt, im Winter, ein Buch aufschlägt,
mit zittrigen Fingern die Stelle findet
und weiter vom Märchen
des Lebens liest.

 

Aus: Volker Friebel (2019): Manchmal Tau. Lyrik und Haiku. Edition Blaue Felder, Tübingen.