Poetologie der Wolken

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Zu den Künsten gehört die Dichtung. Was ist Dichtung eigentlich? Sprache, ja. Zur Verständigung zwischen den Menschen gehört sie aber nicht, mindestens nicht so, wie eine Montageanleitung oder wie die Worte, die wir sprechen, wenn wir einen Laden betreten und etwas kaufen möchten. Wenn wir eine Bestellung aufgeben oder eine Verabredung treffen, dichten wir nicht.

Nun können wir ein Lexikon aufschlagen und nachlesen, was Dichtung ist. Da lesen wir dann etwa, Dichtung sei verdichtete Sprache.

Als hätten Dichter ein Zeit- oder Platzproblem, wie früher Menschen, die in einem Telegramm möglichst viel mit möglichst wenigen Worten sagen mussten, um Kosten zu sparen.

Liest jemand ein Gedicht statt einen Roman, um schneller fertig zu sein? Schreibt jemand ein Gedicht statt einen Roman, weil er nicht so viel Zeit oder so viel Papier oder so viel Speicherplatz zur Verfügung hat?

Im Gedicht kann Sprache „verdichtet“ sein, sie muss aber nicht. Allerdings sind Gedichte, im Vergleich zu Romanen, tatsächlich eher kurz.

Ein Mord wird im Gedicht also wohl weniger ausführlich behandelt werden als in einer Erzählung oder einem Sachtext. Wird er damit auch „verdichteter“? Bringen die Verse „Der Dolch drang tief in ihre Brust, / vorbei war alle Sinneslust“ etwas „dichter“ zum Ausdruck, als das Vernehmungsprotokoll der Polizei oder der Artikel in der morgigen Zeitung?

Man mag das mit Ja oder mit Nein beantworten, irgendwie scheint „Verdichtung“ eine viel zu unklare Angelegenheit, um mit ihr etwas über das Gedicht erhellen zu können. Solange niemand ein Messinstrument erfindet, mit dem sich zweifelsfrei der Dichtegrad eines Satzes messen und mit anderen Sätzen vergleichen lässt, taugt dieses Kriterium nichts.

Immerhin ist zweifellos richtig, dass in Gedichten keine überflüssigen Wörter stehen sollten. In Romanen, Vernehmungsprotokollen und Gebrauchsanleitungen allerdings auch nicht.

Ein anderes Wort für Dichtung in Versen ist Poesie. Das hilft nicht weiter, bedeutet es doch einfach das Erzeugte. Natürlich wird Dichtung erzeugt, wie alle Sprache.

Ein weiteres Wort für Gedichte, Lyrik, bringt uns auf eine interessantere Fährte. Das Wort kommt von Lyra, einem altgriechischen Saiteninstrument. Gedichte sind demnach Texte, die gesungen werden, begleitet durch Musikinstrumente, etwa eine Lyra. Im Unterschied zu anderen Texten wie der Epik, die rezitiert, oder Dramatik, die vorgetragen, oder Prosa, die gesprochen oder stumm gelesen wird.

Gesungen, das galt in den Anfängen der Dichtung vermutlich wörtlich. Das kann heute auch noch so sein. Meist wird das, was wir als Lyrik bezeichnen, aber nicht mehr gesungen. Der Begriff verweist allerdings immer noch darauf, dass hier Worte sind, die mit Musik zu tun haben und erst danach mit Bedeutung. Der Begriff verweist darauf, dass mit den Worten ein Bereich angesprochen wird, der sich der Rationalität eher entzieht, wie Musik, es ihr jedenfalls schwer macht, und der nicht durch den Verstand erschöpft werden kann.

Aber es sind Worte, nicht einfach die Klänge der Lyra oder eines anderen Musikinstruments. Etwas mit Bedeutung zu tun haben muss ihre Verwendung durchaus, sonst könnten als Lyrik auch sinnlose Silben gesungen werden.

Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir uns zunächst mit dem beschäftigen, was Lyrik, was Dichtung überhaupt, will.

Allerdings: Ist es wichtig, was irgendetwas will? Was die Evolution will? Was Max im Kindergarten will? Was die Schule mit Moritz vorhat?

Wichtig ist, was wir erreichen. Gar nicht unbedingt nur als Ziel, sondern auch davor schon, in der Betätigung selbst.

 

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Was erreicht Dichtung?

Merkhilfe: Zumindest in früheren Zeiten, selbst noch nach Erfindung der Schrift, wurden Reime als Merkhilfe verwendet. Auch lassen sich Sätze in regelmäßigen Rhythmen leichter merken als regellose Sätze. Die Zahl der Lehr-Gedichte, die mehr oder weniger ausdrücklich Wissensvermittlung zum Ziel haben, tendiert allerdings in den letzten Jahrhunderten gegen Null. Wird Sinnhaftes auch heute noch besser erinnert, wenn es gereimt und rhythmisiert ist, dürfte dieser Punkt für das Schreiben und Lesen von Versen nur von völlig untergeordneter Bedeutung sein.

Unsagbares sagen: Unsere Sprache ist sehr auf Handlungen ausgerichtet, um uns über das zu verständigen, was in der Welt zu tun ist. Bereits Gefühle werden weniger gut in der Sprache abgebildet, noch schlechter abstrakte Sachverhalte. Und die Rätselhaftigkeit der Welt insgesamt, also das, womit sich Philosophien, Religionen, Weisheitssysteme beschäftigen, lässt sich in der Sprache vielleicht nur im Gleichnis ausdrücken. Etwas zu sagen, das nicht direkt zu sagen ist, Aspekte von Erfahrungen mitzuteilen, für die direkte Sprache einfach nicht passend scheint, die womöglich durch dunkle Worte oder gar Klangspiele besser anzudeuten sind als durch einen logisch nachvollziehbaren Sinn des Gesagten, dürfte heute eine wesentliche Funktion des Gedichts sein.

Dichtung, alle Kunst, ist voraussetzungsreich. Sie richtet sich an die schon gemachten Erfahrungen von Menschen, versucht sie aber nicht nur persönlich, sondern überpersönlich zu fassen, als Beispiel für etwas, das alle Menschen kennen, das alle Menschen angeht.

Die Zunge bewegen: Manche Menschen sind gut im Hochsprung, manche im Weitspucken, manche im geschmeidigen Umgang mit Sprache. Und so entstehen viele Gedichte aus Lust das auszuüben und zu zeigen, sich und anderen, was man gut kann oder gut zu können meint.

Harmonisierung: „Ungereimtes Zeugs reden“ – worauf verweist solch ein Ausdruck? Dass Gereimtes „wahr“ ist? Wohl eher, dass es „stimmt“ im Sinne von „stimmig“, von durchdacht, regelhaft, in sich harmonisch. Rhythmus, Assonanzen, Stabreime, Reime harmonisieren. Die Welt sich fassbar zu machen im geordneten Vers, und schön, durch die anmutende Klangfarbe, heimisch zu werden in der Welt durch den Vers, der die Welt fasst, sicher kann auch das eine Motivation des Dichters sein.

Infrage stellen: Umgekehrt kann der Vers auch verwendet werden, um Bekanntes infrage zu stellen, durch ungewohnte Fügungen von Wörtern, durch neue Wortschöpfungen die „Gemütlichkeit“ der eingerichteten Welt versuchsweise zu verlassen.

 

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Wahrscheinlich wird jede Dichtung die ihr entsprechenden Leser finden. Die Beurteilung von Dichtung scheint also vom Leser abhängig. Von denen berufsmäßigen Kritikern das stärkste Gewicht zugemessen wird. Einen Überblick über die aktuell entstehende Dichtung haben allerdings auch sie nicht. Allenfalls einen Überblick über die Dichtung, die in einigen wenigen Verlagen erscheint. Die aber nicht aus einer Sichtung alles Geschriebenen selektiert wird, sondern aus dem, was die etwas erfolgreicheren Romanautoren dieser Verlage auch noch an Lyrik schreiben. Und vielleicht aus dem, was bei Lyrik-Wettbewerben gewinnt.

Vielleicht ist die gemeinsam erschaffene und gekannte Kultur in einem Prozess der Auflösung, Individualisierung. Jeder fischt sich aus dem Strom der in den Foren erscheinenden Texte ein paar Momente, ein Lächeln, eine Obszönität, ein paar starke Begriffe, etwas Kraft, ein bisschen Zuversicht. Und beim Gang in ein anderes Zimmer zerfließt es. Vielleicht löst sich Kultur auf in ein Nebeneinander kleiner, schnell wechselnder Gruppen, neigungsgeprägt, weltanschaulich verortet.

Natürlich steht es jedem Herausgeber frei, Texte zusammenzustellen, Dichtungs-Epochen voneinander abzugrenzen, Ideengeschichte zu schreiben: Generation Joystick, Generation Bohnerwachs, Epoche des Täterätifizismus. Vor dem Himmel hat das keine Rechtfertigung, auch nicht vor den Heckenrosen und Grashüpfern. Er könnte aber andere Menschen zu seinen Ideen bekehren. Dann entwickelt sich „Kultur“.

Dazu allerdings müssten die Menschen lauschen.

 

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Plappert nicht immer irgendwo ein Gerät, hören wir nicht fortwährend zu?

Und hören eben deshalb kaum hin. Wir lauschen nicht, weil alles um uns herum redet und tutet und piept.

Weil die anderen Sinne zu viel von unserer Aufmerksamkeit fordern.

Weil wir in Gedanken anderswo sind.

Was nebenbei gehört werden kann, wird gehört. Was ein Gespräch anbietet oder vortäuscht, wird gehört. Was genaues Hinhören, konzentriertes Einlassen erfordert, bleibt ungehört.

Dabei gehören beide zusammen, Reden und Lauschen, nebeneinander in uns.

Zum guten Gedicht gehört auch das Lauschen.

Das Lauschen ist keineswegs verschwunden. Die Menschen lesen zwar wenig, und wenn, dann keine Lyrik, sie singen zwar wenig – aber sie lauschen gesungenen Liedern.

Vielleicht zeigt sich im echten Lied auch eine umgekehrte Entwicklung: Während Gesang früher bei der Arbeit allgegenwärtig war, als Taktgeber und um die Gruppe zusammenzuhalten, die Stimmung zu heben oder anzugleichen, hören die Menschen heute schon in der Jugend auf zu singen – aber noch lang nicht zu lauschen.

Ob nun mit den Stöpseln im Ohr auf dem Weg zur Arbeit, ob bei der Arbeit das Radio, ob im Konzertsaal: Die Menschen lauschen Liedern vielleicht länger und intensiver als je zuvor.

Wer kennt das nicht, die Tränen in den Augen der Menschen während eines Konzerts, und hier auch den Gesang, die Worte, die lyrics des Sängers auf der Bühne begleitend … Als Lied ist Lyrik heute vielleicht sogar wichtiger, als in den Zeiten vor uns.

Wenn diese Lieder nur nicht so dumm wären.

 

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Zu Lyrik-Lesungen wird häufig Musik eingeladen. Die Texte werden gesprochen – oder vorgetragen, was immerhin an die Rezitation eines Epos der Antike herankommt. Aber sie werden mit Musik unterlegt oder wechseln ab mit Musik.

Als sei so eine Ahnung der Dichter, dass dem Text allein doch etwas fehlt. Dass seine Wirkung jedenfalls verbessert werden könnte, wenn Musik dazukommt.

Weshalb wurde sie überhaupt erst weggelassen?

Wann ist das geschehen?

Vermutlich war das kein plötzlicher Bruch. Vermutlich hat es auch nichts damit zu tun, dass der Dichter seinen Verdienst nicht mehr mit einem Musiker teilen wollte oder konnte.

Hat es damit zu tun, dass in der Lyrik die Bedeutung überhand nahm und das Musikalische deshalb verzichtbar schien?

Hat es damit zu tun, dass der Dichter etwas zu übermütig wurde und meinte: „Rhythmus, Melodie, das kann ich auch allein mit Worten erreichen. Und die Ansprache des Gefühls sowieso!“

Hat es mit der zunehmenden Spezialisierung aller Berufe zu tun, die dann eben auch eine gewisse Vereinzelung in der Ausübung mit sich brachte?

Vermutlich kommen viele Ereignisse zusammen, in deren Konsequenz sich die Trennung der Lyrik von der Musik vollzog. Aber nicht vollständig. Denn wenn auch die Lyrik auf Musik verzichtete und reine Wortkunst wurde, die Musik ließ die Lyrik nicht los, als Lied, als Oper, als Singspiel blieben sie weiter zusammen.

Lyrik ohne Musik funktionierte – zunächst. Wenn Lyrik heute gekannt wird, ist es allerdings die Lyrik der Klassik und Nachklassik, bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst in unserer Zeit dörrt die Lyrik aus. Nicht, weil es keine Dichter mehr gibt. Sondern weil niemand sie lesen will.

 

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Warum will niemand mehr Lyrik lesen? Ist sie als reine Wortkunst zu anspruchsvoll geworden? Hat sie sich also verändert?

Hat das Musikalische in den stummen Versen doch nicht gehalten, was es einmal versprach?

Ich gehe Lyrikbücher durch und sammle Eindrücke.

Zunächst notiere ich mir, dass die Verabschiedung von festem Metrum und Reim, vom offensichtlich und überprüfbar Handwerklichen in der Dichtung, der Popularität von Gedichten geschadet haben dürfte. Das ist sehr bedauerlich, denn eigentlich sollte die Möglichkeit freier Verse eine Bereicherung sein. Statt neben die vorhandenen Formen zu treten, wie bei Hölderlin etwa, hat sie diese aber zerstört. Und die Maße für Wertschätzung unklar und unsicher gemacht.

Dann fällt mir auf, dass es eine starke Tendenz gibt, Gedichte von anderen Texten formal abzuheben, etwa alles klein zu schreiben, bis auf die Zeilenanfänge, alle Satzzeichen oder wenigstens alle Punkte wegzulassen, vor allem am Schluss des Gedichts. Begründet wird das damit, dass so Leser freier in ihrer Rezeption sein sollen, dass die Verse offener für alternative Möglichkeiten der Rezeption seien. Sicher lassen sich gute Gründe auch für das Weglassen des i-Tüpfelchens im Gedicht anführen, aber das ist, selbst wenn es gelingt, nur ein Spiel mit dem Unwichtigsten, es stellt sich den Dingen nicht gegenüber, es lenkt von ihnen ab.

Beim Leser ankommen dürfte es überdies so, dass heutige Dichter bereits beim Handwerklichen und in der Rechtschreibung versagen. Auch kann eine Vermehrung von Lesarten durch Zunahme der Unschärfe leicht so verstanden werden, dass Dichter nicht einmal selbst wissen, was sie mit ihren Versen eigentlich ausdrücken wollen, dass sie die Suche nach Sinn deshalb auf die Leser abschieben. Oder dass sie Nebel blasen, um die Dürftigkeit ihrer Worte dahinter zu verstecken.

Klassische Dichtung wird nach wie vor gelesen. Vielleicht weil sie Klarheit anstrebt und nicht Nebel beschwört?

Die Welt ist jedenfalls unklar genug. Soweit sich etwas klar sagen lässt, sollte es auch klar gesagt werden. Bei Kernthemen von Dichtung ist Klarheit nur sehr schwer oder gar nicht möglich, weil sie sich einem rationalen Verständnis entziehen. Das Ringen von Dichtern um Klarheit wird durch Nebelaktionen wie den Verzicht auf Großschreibung oder Zeichensetzung lächerlich gemacht. Und Leser rücken von aller Dichtung ab.

Und diese Lächerlichkeit wird, fürchte ich, von denen, die sich vorgeblich der Förderung von Kultur widmen, sogar gewollt. Das raffinierte Sprachspiel mit unendlichen Deutungsmöglichkeiten dürfte dem Kulturdezernenten und dem Oberbürgermeister um einiges besser gefallen, als Versuche von Dichtern um Wahrheit.

Ein Dichter hat nichts mit dem zu tun, was die Machthaber und ihr Anhang einen „Kulturschaffenden“ nennen und mit Preisen und Ehrungen in ihr Gefolge zu bringen versuchen. Ein Dichter ist einer, der sich mit den Mitteln der Sprache den Dingen gegenüber stellt, der ihre Wahrheit zu erkunden versucht. Das ist eher ein Abstreifen von Kultur, von Harmonisierung, Beziehungssetzung, Angleichung. „Wenn einmal die ganze Kultur auf Erden ausgerottet ist, dann erst kann man mit den Leuten vernünftig reden.“ 1 Weil die Menschen sich erst dann als Menschen gegenüberstehen, und nicht als Irrtümer, Vorurteile, Fragezeichen, Hülsen.

Aber gibt es ein Abstreifen von Kultur überhaupt? Kann es das überhaupt geben? Sind wir Menschen nicht überhaupt erst in der Kultur zu Menschen geworden? Ist das Abstreifen von Kultur nicht einfach die Suche nach einer anderen Kultur, die aus der Kultur des Staates, des Althergebrachten, geboren ist, aber etwas anderes will, etwas Utopisches oder etwas, das einmal da war, im Laufe eben von Kultur aber verstaubt, womöglich unter dem Staub begraben wurde, nennen wir es Freiheit, nennen wir es Wahrhaftigkeit, nennen wir es Lebendigkeit, lauter Begriffe von Verrückten, ja, auch nicht so ganz Klugen, die dann letztlich, wenn ihre Gebeine verscharrt sind, zwar keine andere Kultur geschaffen, aber die des Staates verändert, womöglich erweitert haben und dafür einen Platz im Kanon der Schulbücher erhalten? (Wofür sich manche, denke ich, im Grab umdrehen würden, könnten sie denn.)

Kultur schaffen nicht Dichter, sondern andere Leute, Interpretatoren, Zusammensteller von Lesebüchern für die Schule. Das Gedicht ist nur wahr. Ob es gut oder schlecht ist, ob es irrt oder nicht, tut dabei gar nicht so viel zur Sache. Wesentlich ist sein Anspruch auf den Versuch. Natürlich irrt es, natürlich irren wir alle, von irgendeinem Standpunkt aus betrachtet. Was sich darstellen lässt, ist die Perspektive, die Wahrheit der Perspektive, das Persönliche also, die Beziehung in diesem einen Augenblick, in dem das Gedicht entsteht, zwischen dem Ich und der Welt.

Aber welche Dichtung genügt diesem Anspruch? Die eine mehr, die andere weniger. Interessant finde ich, wo die verschiedenen Dichter suchen.

 

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Nicht dass es auf Antworten ankäme. „was zu thun indeß und zu sagen, / Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit“, schreibt Hölderlin dazu. Sie seien, lässt er sagen, wie des Dionysos Priester, „Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht“. 2

Wandernde.

Wandernde Heilige.

Durch welche Nacht ziehen sie denn?

Und Dionysos schreit! Seine Priester schreien! Es sind keine Lauschenden. Wovon schreien sie denn? Besser: Woraus schreien sie? Aus welchem Grund des Lebens?

Sie besinnen sich nicht. Sie sind leibhaftig etwas von dem, worauf sich die Menschen besinnen wollen, wenn sie den Dichtern lauschen.

Die Haltung ist das Wichtige, und die ist „in dürftiger Zeit“ wohl kein Schreien mehr, eher die einer Frage, eines Anklopfens vielleicht, eines Versuchens womöglich, so wie man etwas ausspricht, um am Klang der eigenen Stimme zu hören, ob es wahr sein könnte.

„Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie [die Himmlischen] zu fassen, / Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch. / Traum von ihnen ist drauf das Leben“, meint Hölderlin nur Zeilen davor. 3

Traum von den Göttern? Oder ein Gleichnis für das Einschwingen in den eigenen inneren Rhythmus, für die Gegenwart des Wassers, der Bäume und Vögel und Menschen? In der Dichtung wird es am ehesten erfahrbar. Sie hallt es aus, in dieser dunklen Höhle ist es der Klang ihrer Stimme, der uns etwas von den Wänden verrät.

 

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Aber nochmal: Wozu überhaupt Gesang? Nur zur Taktung der Arbeit auf den Feldern? Ich lausche in die Vergangenheit, lausche dem Altphilologen Walter F. Otto:

„Auch beim Gesang der Tiere ist es in vielen Fällen unverkennbar, daß er sich selbst genug ist, keinem Zwecke dienen, keinerlei Wirkung hervorbringen will. Solche Lieder hat man treffend als ,Selbstdarstellungen‘ bezeichnet. Sie entspringen der ureigenen Notwendigkeit des Geschöpfes, seinem Wesen Ausdruck zu geben. Aber die Selbstdarstellung fordert ein Gegenwärtiges, für das sie geschieht. Dieses Gegenwärtige ist die Umwelt. Kein Wesen steht für sich allein da, alle sind in der Welt, und das heißt: ein jedes in seiner Welt. Das singende Geschöpf stellt sich also in seiner Welt und für sie dar. Indem es sich darstellt, wird es ihrer gewahr und froh, ruft sie auf und nimmt sie freudig in Anspruch. So steigt die Lerche in der Luftsäule, die ihre Welt ist, zu schwindelnder Höhe empor und singt, ohne anderen Zweck, das Lied von sich und ihrer Welt.“ 4

Die Lerche stellt sich mit ihrem Lied in die Welt, mit dem vollen Ausdruck dessen, was sie ist.

Wie stellen wir uns in die Welt?

Die Welt ist ein Spiegel. Ich schaue hinein und sehe mich, und so weiß ich, dass ich bin. Ich spüre mich vor allem in der Bewegung, im Wirken.

Das Lied kann eines davon sein, die Verse können mich in ihrem Widerhall erreichen und zeigen, was ich bin, wer ich bin. Auch der Gang mit der Rose und der Vase zum Tisch kann das, das Platzieren der Vase auf dem Tisch. Das Staubwischen. Und das Aufwirbeln von Staub in einem Tanz zu zweit tief in der Nacht.

Vielleicht haben wir Menschen einfach so viel mehr Möglichkeiten, dass wir Singen und Sagen vergessen.

Vielleicht sind wir einfach zu viele und leben zu dicht gedrängt, so dass wir Singen und Sagen entmutigen müssen, um nicht zu ersticken im Stimmengewirr.

Vielleicht leben wir zu sehr in der Not, so dass wir unsere wilde Natur umgewandelt haben und nur die Ausdrucksweisen kultivieren, die zugleich auch noch nützlich sind. Und so singt nur der Sänger, erzählt nur der Schriftsteller, für Geld, und die anderen lauschen und schöpfen sich Kraft für ihr eigenes, anderes Sagen und Singen, das sich nun etwa in den Lackierarbeiten einer Möbelwerkstatt, im Stempeln von Antragsformularen der Stadtverwaltung oder im Operieren von Gallenblasen und Sportverletzungen erschöpft.

Was den Menschen auszeichnet vor allen anderen Wesen, ist vielleicht gar nicht die Intelligenz oder die Hand oder der Kiefer oder der aufrechte Gang, sondern die Armut. Weil sie ins Werden drängt, ins Kümmern, Entwickeln.

Vielleicht sind die Tiere und Pflanzen und Steine zu reich, und so verbleiben sie immer in ihrem vollkommenen Sein.

Vielleicht muss es für den Menschen deshalb fortwährend Handeln heißen, während die Lerche singen darf.

Vielleicht singt alle Welt, singen alle Vögel und Steine und Gräser und Wasser um uns herum, während wir lesen, wie viele Millionen Alben der von uns bezahlte Sänger verkauft hat.

Aber die Armut scheint nicht weniger zu werden, sondern ab einem Punkt des Handels nur immer noch mehr. Vielleicht geschieht diese Wende dann, wenn der Mensch das Singen selbst ganz vergessen hat und nur den anderen zuhört.

Vielleicht nimmt ab einem bestimmten Punkt seines Handels der Reichtum nur dann weiter zu, wenn er wieder anfängt zu singen. Wenn er sich in seinem Singen wieder ganz einbringt in die gemeinsame Welt.

Ich würde von einem Milliardär erst dann glauben, dass er reich ist, wenn er singt. Ich glaube es dann auch dem Weintrinker unter der Brücke am Fluss.

 

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Aber weiter Walter F. Otto:

„Das oft langwierige Klären und Sichten, das wir bei manchen Dichtern, und gerade bei Hölderlin, deutlich verfolgen können, versteht man erst recht, wenn man den Dichter als den Hörenden weiß. Er hört auf eine Einflüsterung, die ihn immer wieder zu sich zurückruft, daß er prüfe, ob sein Wort mit ihr vollkommen zusammenklingt. Und was sich so gestaltet, ist keine ausgeklügelte Rede, sondern die heilig tönende Verkündigung, aus der wir die Stimme der Welt und des Göttlichen, in dem sie lebt, unmittelbar zu vernehmen glauben.“ 5

Es ist die Sprache einer anderen Zeit. Die kaum zu sagende Dinge zu sagen versucht und dabei Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen. Wie sich vielleicht alle Sprache lächerlich macht, wenn sie in solchen Dingen nicht genau den Nerv ihrer Zeit findet. Weil es lächerliche Dinge sind. Oder weil keine Sprache ihr angemessen ist.

„Tiefe“, „Unsagbares“! Vielleicht sollte man auf alles Sagen verzichten. Oder darauf, Inhalte benennen zu wollen, die sich nicht benennen lassen. Und die alten Götter und Dichter vergessen.

Das Unsagbare ist auch einfach Schönheit. Ganz ohne Konzept.

 

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Aber wie steht es in der Dichtung denn um Wahrheit? Da ist die Wahrheit der Esche, wie sie einfach da steht, mit bestimmbarem Aussehen, mit ihrem gefiederten Blattwerk. Da ist die Wahrheit eines für Drechslerarbeiten geeigneten Holzes, die Esche als Nutzobjekt. Die Esche als bedrohter Baum, der weitgehend verschwinden wird. Die Esche als Gegenüber, als eigenes Wesen oder als Echo des Menschen.

Unsere Zeit ist eine Zeit des Individualismus, wie es so heißt, da gibt es der Wahrheiten viele, da läuft ein jeder mit seinem Universum von Wahrheiten um sich herum durch die Gassen.

Wahr in der gemeinsamen Welt wird der Traum dann, wenn viele ihn träumen.

Wenn Dichtung den Traum der Vielen zu erfassen, zu zeigen, zu kritisieren oder zu bestätigen versucht, ist sie dann heute nicht ganz verloren? Weil das Gemeinsame bröckelt?

Lyrik wird gelesen – aber die gelesene Lyrik ist die Lyrik der Vergangenheit. Dort eben findet sich noch ein Gemeinsames, Verbindendes. In der Gegenwartslyrik fällt fast nur noch das Vereinzelte und damit das Trennende auf. Vielleicht ist es ein Schritt für Dichter und Leser, gerade daraus einen neuen Rahmen zu schaffen für eine gemeinsame Wahrheit.

Aus dem Vereinzelten, dem Trennenden?

Wie könnte das sein?

Eine Wahrheit der Perspektive, des Punktes, der Sichtweise, wie könnte sie gegen den unendlichen Raum und die Augen der Götter bestehen?

Vielleicht hilft es weiter, uns mit den Begriffen zu beschäftigen, die Dichtung beschreiben. Zumindest ist es interessant. 6

 

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Der Begriff „Vers“ kommt vom lateinischen vertere, das heißt „wenden“. Anklänge an Furche, an Reihe, damit an Pflug sind enthalten, gemeint ist also eine Gedichtzeile. Zeitweilig wurden auch umfassendere Einheiten eines Gedichts als „Vers“ bezeichnet, die man heute aber als „Strophe“ nimmt.

„Reim“, früher rim, bedeutet ursprünglich einfach einen solchen Vers. In manchen Bezeichnungen ist das noch enthalten, so meint „Kinderreim“ eben Kinderverse, ob sie sich reimen oder nicht. „Reim“ kommt vom Altfranzösischen „ritme“ oder „rime“, was sich wiederum auf das griechisch-lateinische „Rhythmus“, das ist Gleichmaß, bezieht. Heute aber meinen wir mit „Reim“ den Endreim von Versen.

Die ältere Bedeutung von „Reim“ macht die Bezeichnung „Stabreim“ verständlicher. Im Stabreim (ein Begriff aus dem Dänischen, der auf die Edda zurückgeht) „reimt“ sich nach unserem heutigen Verständnis nichts, sondern es stabt, der Anlaut von betonten Silben ist gleich, etwa: mit Mann und Maus. Nach der Zusammensetzung von lateinisch ad (zu) und littera (Buchstabe) wird der Stabreim auch Alliteration genannt. In der germanischen Dichtung war der Stabreim auffälligstes Merkmal, obwohl auch anderswo und früher bekannt.

Was wir heute als Reime verstehen, löste im germanischsprachigen Raum um das Jahr 900 den Stabreim ab. Dieser Reim meint den Gleichklang von Wörtern ab dem letzten betonten Vokal. Ein Reim zu „Vokal“ müsste also ab „a“, gleich klingen. Das tun etwa „Tal“ oder „Liebesqual“. In „klingen“ ist der letzte betonte Vokal das „i“, also wären Reime „schwingen“ oder „gelingen“. Bei den Reimen gibt es vielerlei Unterformen, je nachdem, wie viele Silben sich reimen, nach Stellung des Reimes im Vers, nach Reinheit des Reims …

Besonders hervorheben mag ich nur die Assonanz (von lateinisch assonare, das heißt anklingen), da ihre Bedeutung in unserer reimscheuen Zeit enorm gestiegen ist. Assonanzen meinen Reime, bei denen nur die Vokale beteiligt sind, wie es ohne weiteres auch in Prosa vorkommen kann, ohne aufgesetzt zu klingen. Etwa „Reime“ und „Schleier“ haben eine Assonanz, über das jeweils tragende „ei“, auch wenn der Schluss der Wörter nicht gleich klingt.

Reime klingen, sie sind Musik. Warum hat ihre Verwendung in den vergangenen 100 Jahren so deutlich nachgelassen?

Wird mit Reimen vielleicht das Handwerkliche zu sehr in den Vordergrund gestellt, was einerseits, wenn es gelingt, Vertrauen schafft, andererseits wenig spontan und authentisch wirkt?

Reime sind süß – wirken sie vielleicht süßlich? Dichtung hat in diesen 100 Jahren einen stark realistischen Zug entwickelt – vielleicht als Gegengewicht zur gleichzeitigen Individuation, zum Hang zur Befindlichkeitslyrik? Realismus ist nicht süß. Jedenfalls wirkt das Klingende, magisch Verbindende des Reims leicht ätherisch, idealisierend, abgehoben von der sich so wenig reimenden Wirklichkeit.

„Sich einen Reim auf etwas machen“, „ungereimtes Zeug“, die Redewendungen beziehen sich darauf, dass der Reim „passt“, dass da etwas „zusammenpasst“. Aber die Wirklichkeit passt nicht, das ist ein Ergebnis der Dichtung der letzten 100 Jahre. Und die Dichtung, gleichfalls eine starke Tendenz dieser 100 Jahre, sollte sich mit dieser Wirklichkeit befassen.

Rhythmus kommt vom Altgriechischen „rhythmos“, das heißt: gleichmäßige, abgemessene Bewegung. Der Rhythmus gliedert die Sprechlaute in der Zeit. Wie wir einen Vers ganz natürlich sprechen würden, das ist der Rhythmus.

Metren sind künstliche Rhythmusmaße, etwa eine vorgegebene Abfolge von betonten und unbetonten Silben in Liedern. Sie können mit dem natürlichen Rhythmus durchaus in Konflikt geraten, wenn etwa eine eigentlich nicht zu betonende Silbe auf einem betonten Platz im Metrum steht. Das kann ein Fehler des Dichters sein oder ein kunstvolles Stilmittel.

Feste Metren erlauben eine Dimension des Ausdrucks, die freien Rhythmen nicht möglich ist, die der Harmonie oder der Spannung zwischen Metrum und natürlicher Rhythmik, das Spiel um Bindung, Ausbruch und Freiheit. Gerade in Metren kann Freiheit dargestellt werden, in freien Rhythmen weniger, da sie schon frei sind.

Zum Muster der Wechsel von betonten und unbetonten Silben treten die Gipfel des Verses. Meist werden im Vers manche betonte Silben noch einmal besonders betont. Der Sinn gibt den Ausschlag, welche. Und die Pausen sind wichtig. Dort fehlt sozusagen eine unbetonte Silbe, zwei betonte klingen hart aufeinander, durch die von ihnen provozierte Sprechpause sowohl gesteigert als auch gemildert.

Geschwindigkeit, auch Geschwindigkeitsänderungen, Klangfarbe, Lebendigkeit der Melodie sind vom Sinn der Worte abhängig. Aber auch etwa die Vokale und Konsonanten der Wörter haben einen gewissen Einfluss.

Die abwechselnde Folge von Vokalen und Konsonanten klingt angenehm. Aufeinanderfolgen von mehreren Vokalen oder Konsonanten, vor allem am Ende eines Worts und am Anfang des nächsten, klingen oft unangenehm.

 

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„Der Wanderer deutet mit seinem Stock in den dunklen Himmel.“

Hauptwörter (Substantive) tragen den Text. Gottfried Benn formuliert: „Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.“ 7 Angesprochen ist der Hof der Worte, die Assoziationen, die mit ihnen angestoßen werden und zum Leben erwachen, an denen nicht nur wir mit den Erfahrungen und Verknüpfungen unserer Leben gearbeitet haben, sondern schon viele Generationen vor uns.

Tätigkeitswörter (Verben) bringen Bewegung und damit Zeit in den Text. Wenn Verben fehlen, tendieren Texte dazu, wuchtig und statisch zu wirken.

Eigenschaftswörter (Adjektive) haben in der Lyrik keinen guten Ruf. Soll man sie deshalb weglassen? „Eigenschaftswörter haben keinen Ruf“, wäre ein erstes Ergebnis. Die nötigen Adjektive lassen wir also doch besser stehen und streichen nur die unnötigen. Nötig ist ein Eigenschaftswort dann, wenn ohne es etwas fehlen würde. Oben der Satz ohne Eigenschaftswort drängt eine Frage auf. Also fehlt ohne „guten“ etwas.

Die Verwendung von Eigenschaftswörtern ist auch eine Sache des Stils. Texte mit wenigen Eigenschaftswörtern wirken eher nüchtern, karg, realistisch, Texte mit vielen Eigenschaftswörtern eher üppig, bunt, fantasievoll. „Wie viele Eigenschaftswörter will ich verwenden?“ fragt also nach dem persönlichen Stil, dem Zeitgeist, dem Genre. Zu viel des Guten ist aber immer zu viel, auch da, wo Adjektive grundsätzlich am Platz wären.

Jedes Wort prüfen. Kommt der Text auch ohne es aus? Wie verändert er sich ohne das Wort? Wird er besser? (Nach welchen Kriterien?) Dann lassen wir das Wort weg. Auch besonders verdächtige, weil vage Adjektive wie ,schön‘ oder ,gut‘, können manchmal bereichern. Vielleicht nicht für den Gehalt, aber für die Atmosphäre eines Textes, für seine lautliche Gestaltung oder den Rhythmus.

 

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Was sind eigentlich Wortarten?

Der Wanderer singt schön.

Das Schönsingende wandert.

Das Wettergegerbte wandert schönsingend.

Der wettergegerbte Wanderer schönsingt (singt schön).

Die Unterscheidung in „Hauptwörter“, „Eigenschaftswörter“ und „Tätigkeitswörter“ dient doch bloß der Bequemlichkeit, der schnellen Verständigung, der Handhabung. Ein Baum kommt ohne sie aus und existiert doch auch in dieser einen, selbst uns umschließenden Welt.

Es gibt keine Eigenschaften.

Es gibt nur Eigenschaften, aber niemanden, der sie trägt.

Es wandert schauderhaft singend, vom Wetter gegerbt werdend.

„Es“ ist nur ein Platzhalter. Wir besetzen ihn aus Gewohnheit, wir können ihn auch leer lassen, weglassen.

Wandernd, schön singend, vom Wetter gegerbt werdend.

Das Wetternde verbindet sich gerbend mit dem wandernd Schönsingenden.

Das Wandernde verbindet sich mit dem Schönsingenden, das Wetternde bricht über diese Verbindung herein und gerbt sie (schön).

Eigentlich ist das nicht lustig, ich lache trotzdem.

Mit Worten kommen wir in das tiefe Verstehen doch nicht, sie sind aus der Handhabung, dem Begreifen, sind für die manipulierende Tätigkeit entstanden. Die Welt lässt sich in ihnen wohl sagen – aber auch der Farbenblinde kann sich über die Farben verständigen, auch ein Stein kommt zurecht in der Welt oder ein Frosch – und beide kennen vermutlich unsere Wortarten nicht.

Aber wir, die wir ganz geborgen sind in diesem Meer der Worte, wir können von ihnen nicht lassen, sie sind eben unser Leben, unsere Art – wie der Stein seine hat und der Frosch eine andere. Und wie sich diese wohl aus der Art einer Kaulquappe entwickelt hat, können auch wir uns entwickeln. Nicht unbedingt durch eine Veränderung der Sprache, aber vielleicht durch mehr Empfindung für die Sprache als Weg, als gemeinsamen Weg. Vielleicht lernen wir dann auch die Rosen und Dornen kennen an seinem Rand.

Wesentlich für die Sprache der Dichtung scheint die starke Beteiligung der Konnotationen, der Worttiefen, des Dufts der Wörter im Text. In einem wissenschaftlichen Text wird das Wort „Baum“ informell gebraucht, wie eine Definition. Tatsächlich bemühen sich wissenschaftliche Texte häufig noch immer, ihre Begriffe scharf zu umreißen, den informellen Gehalt herauszustellen, alles andere abzuschneiden mit dem scharfen Messer der Definition. Dass meist fremdsprachige Begriffe verwendet werden, erleichtert das noch. Vielleicht ist so etwas für die Kommunikation innerhalb einer Fachsprache gut (vielleicht auch nicht). In der Dichtung jedenfalls tritt die gewachsene Tiefe des Wortes viel mehr hervor, seine Verwandtschaft mit anderen Wörtern und Inhalten, seine Beziehung zu uns selbst, als dass sich irgend etwas klar definieren ließe.

Die Konzentration auf den Duft, die Konnotationslastigkeit, ist eine Erklärung dafür, dass in guter Dichtung meist einfachere Wörter verwendet werden, Wörter mit mehr Tiefe eben, wie Baum, Meer, Himmel, Haus. Guter Dichtung gelingt es, die im alltäglichen Gebrauch, in der informellen Handhabung verschüttete Tiefe der Wörter wieder zum Klingen zu bringen, freizuspülen. Sie ist damit wie eine Gesundheitskur für die Sprache.

Mit dieser Sprache aber reicht der Mensch an seine Wirklichkeit. Die Wahrheit seiner Existenz, seine Seele sozusagen, zeigt sich in der Sprache der Dichtung – gerade eben in diesen Konnotationen der Wörter, in ihrem Klang und Duft schimmert sie auf, kaum in ihrem informellen Gehalt.

Nicht jede Dichtung kann dem genügen, nicht jede Dichtung will überhaupt dorthin. Scherz- und Schüttelreime, Sprachexperimente, Verse zum politischen Kampf oder Befindlichkeits-Lyrik sprechen sogar gegen diese Deutung.

 

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Die Welt ist Flickwerk geworden, unzählige Parzellen Privatbesitz. Zersplittert finden die Scherben kaum mehr zusammen, nur im Konzert vielleicht, wenn die Streicher beginnen und der Chor anhebt, wenn die Töne den Raum unter der Kuppel ausleuchten wollen, vielleicht dann, ein paar Augenblicke, einmal im Leben, vielleicht.

Vielleicht sind nur die alten Mythen und Märchen ungebrochen noch glaubhaft: Prometheus, Kriemhild, Sindbad der Seefahrer, Frau Holle, Parzifal, Dornröschen, ein Asket unter dem Bodhi-Baum, Odysseus, Aschenputtel, Laotzi auf dem Ochsen am Pass – glaubhaft in der Wahrheit ihrer Bilder.

Mythos heißt Existenzielles in Bildern fassen, er ist wahr, wenngleich nicht real, er ist die Welt unter der Oberfläche der Wogen. „Das hat sich nie zugetragen, aber es ist immer.“ So soll ein gewisser Sallustias von den griechischen Atthismythen geschrieben haben. 8 Mythos als ein Umsetzen des Unfassbaren in Bilder.

Welches Unfassbaren?

Des unfassbaren Unfassbaren – eben dessen, auf das die Bilder verweisen.

Wäre es fassbar, gelänge es anders zu sagen, was sollten dann Verse, was sollten Gemälde, was sollten Skulpturen, was sollte Musik? Mythen und Bilder erklären zu wollen, wie das beispielsweise in Märcheninterpretationen geschieht, ist letztlich Unsinn. Es rationalisiert das Unfassbare, es nimmt ihm das Herz – und zeigt dann was vor?

Doch selbst wenn der Mythos mit seinen Bildern eine tiefere Wahrheit anstößt, als der Verstand zu fassen vermag, so wird der Verstand sich dennoch damit beschäftigen. Was soll er auch anders. Aber wie soll er? Die psychologische Perspektive, die soziologische, die wirtschaftspolitische – wo dazwischen, wo irgendwie orthogonal zu allem Rationalisieren findet sich ein Verstehen, das dem Mythos der Verwandlung angemessen ist?

Beispielsweise die Metamorphosen Ovids.

Zeus verwandelt sich in einen Stier, um sich der Königstochter Europa zu nähern. Daphne verwandelt sich, dem liebestollen Apollon zu entkommen, in einen Lorbeerbaum. Und als der Gott trauernd vor ihr steht und sie, wenn schon nicht zu seiner Gemahlin, so doch zum Baum der Ehre erhebt, nickt sie mit den neu entstandenen Ästen und scheint den Wipfel wie ein Haupt zu bewegen.

Was gleich bleibt in jeder Verwandlung, das muss dem Dichter die Seele sein. Was sich zeigt oder verbirgt in jeder Gestalt, was sie belebt. Die Metamorphosen sind, was sonst, ein Buch über die Seele. Dass es sie gibt. Sie sammeln Zeugnisse dafür. 9

Aber nun, Jahrtausende später, verlangt das ehemals Selbstverständliche Beweise. Beweise sind im Mythos und Märchen keine dabei.

Wenn Mythen denn Bilder sind oder die Systematisierung der Bilder, die aus der Wahrheit unter den Dingen geschöpft werden können, ist Dichtung der Versuch, die Schatten reden zu machen. Sie anzurühren mit diesen Bildern, dass sie dieser Wahrheit bewusst werden, dass sie ihrer Grundlagen und Zusammenhänge bewusst werden und sie mitzusummen beginnen. Dann ist Dichtung wie ein Bewusstwerden im Traum.

Ein Eindruck, dass nichts einfach so ist, wie es scheint, muss dem zu Grunde liegen. Oder der Eindruck, die Wirklichkeit vergessen zu haben im Tanz der Geschäfte, sich erinnern zu wollen an sie.

Dichtung ist die Beschäftigung mit der Wirklichkeit, ein Erfragen der Wirklichkeit. Ist dies so? Ist dies anders? Die Bilder versuchen dazu. Sich nicht daran stören, dass die Bilder sich widersprechen, dass sie vage sind, dass sie eher eine Heimat zu bieten im Stande sind, als eine Erklärung.

Vielleicht ist die Unzerstörbarkeit der Dichtung selbst in unserer „dürftigen Zeit“, in der Rationalität gefragt ist, Handhabbarkeit, Eindeutigkeit, auch ein Hinweis darauf, dass die Wahrheit – nun, das, was all unseren Bemühungen zu Grunde liegt – eben Vieles ist, dass die Wahrheit bunt ist, facettenreich, nicht fassbar durch eine Formel, nur durch Geschichten, durch Lieder, durch bunte Flecken auf einer Leinwand einigermaßen verstehbar, dass sie dem divergenten Denken zuneigt, der Kreativität, und sich dem konvergenten Denken, der Intelligenz, entzieht.

 

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Im Gedicht bin ich ganz in der Wahrheit. (Wenn es gelingt.) Die Prosa der Wissenschaft will Wahrheit finden, sieht sich ihr also gegenüber stehen, will sie betrachten und beschreiben.

Die Prosa der Wissenschaft ist logisch, ist den Konventionen des Satzbaus verhaftet. Im Gedicht herrschen Bilder vor, Sprünge zwischen den Bildern. Erfindungen von Übergängen sind weniger nötig.

Wenn Nebel als Nebel gezeigt statt als Wasserdampf beschrieben wird, ist das ein Zuwachs an Klarheit?

Ich will die Wahrheit, dass die Sonne jeden Morgen am Horizont aufgeht, wieder als Wahrheit empfinden lernen, nicht als astronomische, sondern als menschliche.

Ich will wieder heimisch werden in unserer Welt, statt mich als Insassen eines Raumschiffs zu begreifen.

Wissenschaft hat ihren Sinn. Bei allem, was mit Hantieren, Benutzen, Ausbeuten zu tun hat (und dem Raubtier Mensch ist daran immer gelegen, wenn es nicht lügt), hat sie uns weit gebracht. Ein kleineres Stück weit auch in das Erkennen.

Verse führen uns aber womöglich in eine andere Wahrheit, die näher an unserem Empfinden wohnt und mehr von der Natürlichkeit unseres Verstandes in sich hat.

Beide Wahrheiten stehen nebeneinander, weil sie sich ergänzen, weil beide je einen Aspekt unserer menschlichen Welt aufweisen.

Den der Verse haben wir vernachlässigt, haben ihn mit Wissenschaft nicht ergänzt, sondern die Wissenschaft gegen ihn ausgespielt.

Vielleicht achten wir gegenwärtig sogar beides zu wenig, auch die Wissenschaft, weil wir sie gegeneinander halten und vergleichen und damit beide in Frage stellen und beschädigen, statt beide nebeneinander anzuerkennen und unser Verständnis der Welt durch sie vollständiger werden zu lassen.

Den Nebel als Wasserdampf zu analysieren, löst den Nebel nicht auf. Das nimmt nur unsere Sinnesorgane heraus und zeigt uns einen einzigen, manchmal nützlichen, manchmal gleichgültigen Aspekt.

Verse taugen zur Beherrschung unserer Umgebung nicht viel, sie bringen uns mehr zu uns selbst. Damit allerdings sind sie auch subversiv.

 

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Dass letztlich auch die Sprache gerade an das Wesentliche nur so schwer heranzureichen scheint, dass auch sie in die Irre führt. Nehmen wir bloß als Beispiel diese Betonwand der Straßenunterführung und ihr aufgesprühtes: „I love you“. Nehmen wir eine Musiksendung im Fernsehen oder im Radio, über tiefe Gefühle und Tränen – in einer Fremdsprache. Wir schauen einander nicht an.

Was heißt „Kitsch“? Vielleicht dass die Gefühle tief sind, andere Menschen sie aber auch schon hatten. Und deshalb weichen wir aus, in eine Fremdsprache, weil da wenigstens die Sprache für uns neu ist. Weil alles ein bisschen verfremdet ist und nicht gar so „dumm“ klingt. Weil Masken weniger leicht verletzt werden können, als diese bloße Haut der eigenen zitternden Sprache.

Aber vielleicht sind es einfach nur wir, nicht die Worte, die an das Wesentliche nicht heranreichen – weil wir uns nicht dazu trauen. Vielleicht ist es dieses Netz von Beziehungen, das Netz der „Gesellschaft“ also doch wohl, das dieses Wesentliche nicht trägt.

Wie wäre es denn überhaupt vorstellbar, dass dieses Netz, diese „Kultur“, so etwas Leichtes wie die Seele zu tragen imstande wäre? Oder die Liebe? Oder den Himmel?

Masken, Masken, schnitz neue Masken!

Oder heißt Kitsch, dass die Gefühle eigentlich tief wären, die Maske dazu aber Massenanfertigung, Sonderangebot ist, gefertigt nur aus der Berechnung des Geldes?

Dabei ist keine Zeit zu verlieren mit Masken und Nichtigkeiten, an der Kante der Welt.

Es ist jeder Atemzug, den wir tun – warum vergeuden wir ihn für Staubwischen, für Ermahnungen an die Kinder oder die Katze? Oder das Blättern der Seiten? Oder noch ein „Vielleicht“? Eigentlich sollten wir immer nur tanzen. Oder meditieren, vor einer weißen Wand.

Wieso versagen wir fortwährend?

Weil das alle tun?

Weil das alle immer getan haben?

Weil wir nur diesen einen Weg wissen, da, auf dem Teppich, im Kreis?

Weil wir denken, dass niemand einen geraden Weg weiß? (Ich weiß ihn allerdings nicht.)

Weil wir andere Wege uns denken könnten, aber nicht so gut beheizte, bequeme wie auf dem Teppich daheim?

Weil der Spatz in der Hand besser ist als auf dem Dach die gurrende Taube?

Weil wir uns fragen, was einem Menschen eine gurrende Taube eigentlich soll?

Weil letztlich eben nichts wirklich wichtig sein kann, das zeigt schon seine Umtauschbarkeit in Geld?

Außer den Kindern natürlich, die aber, so wie sie größer werden, einschwenken und fortfahren eben mit dem, was wir schon tun, mit dem Ausweichen, mit dem Ausstreichen der Tiefe der Welt.

Auf dem Teppich bleiben, auf dem Teppich bleiben! Andere, wir nennen sie Spinner, fliegen auf dem Teppich davon.

 

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Weshalb nun aber, weshalb nun Dichtung in der immer dürftigen Zeit?

Weil das Herz groß ist und strömen will.

Weil es sich Himmel und Erde, Sonne und Mond erst schaffen muss, um zu leben.

Weil der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch vom Bestellen des Ackers, vom Streichen der Hand über das biegsame Korn, vom Geruch des Windes, vom Lerchenlied.

Weil der Mensch sich begegnen will, im leeren Raum zwischen den Spiegeln, und begegnen auch anderen Menschen. Und dem Reh und der Kiefer. Und den singenden Felsen im Waldbach.

Weil Klang schön ist und das Gesicht lächeln macht.

 

Anmerkungen

1Dschuang Dsi (1992), Buch X, aus dem 3. Stück, Seite 112.

2Friedrich Hölderlin (1992), Band 1, Brod und Wein, Ende der 7. Strophe, Erste Fassung, Seite 378 und 380, entstanden um das Jahr 1800.

3Friedrich Hölderlin (1992), Band 1, Brod und Wein, Erste Fassung, Seite 378, entstanden um das Jahr 1800.

4Walter F. Otto (1955), Seite 73.

5 Walter F. Otto (1955), Seite 87.

6Sachaussagen zur Poetik folgen im Wesentlichen Ivo Braak & Martin Neubauer (2001).

7Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Gesammelte Werke 2, herausgegeben von Dieter Wellershoff (2003), Seite 1058-1096, Zitat Seite 1077, Erstveröffentlichung des Vortrags: 1951.

8Walter F. Otto (1933), Seite 71.

9Dazu Volker Friebel (2015): Bunte Scherben – Versuch über die Seele.

 

Aus: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen.